(Deutsch) Die Regierung blieb Antworten schuldig

ORIGINAL LANGUAGES, 17 Nov 2015

Bernard Schmid, Paris - neues deutschland

Der »Krieg« ist erklärt, nicht aber das Phänomen des Abdriftens junger Leute in den Dschihadismus. Ein halbes Dutzend mal fiel das Wort »Krieg« in der Ansprache von Frankreichs Präsident. Der Begriff wird sonst für zwischenstaatliche Konflikte gebraucht, weshalb seine Verwendung Aufsehen erregte.

Foto: AFP/Patrick Kovarik

Foto: AFP/Patrick Kovarik

17. November 2015 – Der so genannte »Islamische Staat« (IS) hat sich zu den tödlichen Anschlägen bekannt. Aber er ist kein völkerrechtliches Subjekt. Trotzdem erklärte ihm Frankreich nun de facto den Krieg. Auch wenn die Handlungen der französischen Regierung eine außen- und eine militärpolitische Komponente aufweisen – vor allem in Gestalt verstärkter Bombardierungen auf Stellungen des IS in Syrien, wie in der Nacht zum Montag in der Provinzhauptstadt Raqqa -, so weist der ausgerufene Krieg doch eine starke innenpolitische Dimension auf.

Drei französische Staatsbürger waren bis Montagnachmittag als Selbstmordattentäter, die an den Terrorakten beteiligt waren, identifiziert, dazu ein syrischer Staatsangehöriger. Als erster war Omar Ismail Mostefai identifiziert worden; seine Identität konnte durch die DNA-Analyse an einem abgerissenen Finger aufgedeckt werden. Über ihn lag bereits seit 2010 eine Akte vor. Der 29-Jährige, der von Bekannten als »schüchtern« beschrieben wurde, war im südlichen Pariser Umland geboren worden. Er war seit 2004 mehrfach strafrechtlich belangt worden, doch die Delikte standen in keinerlei politischem Zusammenhang. Mit Beginn seiner ideologischen Radikalisierung, mutmaßlich 2012, hatte er im Gegenteil begonnen, sich strafrechtlich unauffällig zu verhalten. Im Laufe der beiden darauffolgenden Jahre hielt er sich höchstwahrscheinlich in Syrien auf.

Dass in Frankreich geborene und aufgewachsene Personen – ob sie nun aus einer französischen Familie oder einer mit Migrationshintergrund – im internationalen Dschihadismus aktiv werden und dessen Gewalt nach Frankreich tragen, ist kein neues Phänomen. Schon 1995 hatte eine Serie von Bombenanschlägen auf öffentliche Verkehrsmittel stattgefunden: auf Pariser Metrozüge und Vorortbahnen sowie den Hochgeschwindigkeitszug Paris-Lyon (TGV). Nach Verhaftung des »harten Kerns« rissen die Anschläge ab.

Im selben Jahr wurde ein Mittäter, Khaled Kelkal, in einem Wald bei Lyon durch die Polizei erschossen. Kelkals Fingerabdruck hatte sich auf einem Klebeband an der Bombe im TGV befunden. Den politischen Kontext bildete damals der algerische Bürgerkrieg der neunziger Jahre. Die »Bewaffneten islamischen Gruppen« (GIA) aus Algerien hatten bei ihrem Krieg gegen die Regierung in Algier auch die frühere Kolonialmacht zu treffen versucht. Die GIA sahen in Frankreich die Hauptstütze der algerischen Regierung.

Die damalige Erkenntnis, dass in Frankreich aufgewachsene Migrantenkinder auf diese Weise in internationale Konflikte hineingezogen werden und darüber zu Tätern werden konnten, führte zu unterschiedlichen Reaktionen. Es gab Rufe nach mehr Repression und Ausgrenzung von Migranten, vor allem – wie zu erwarten – von der extremen Rechten. Andere warfen die Frage auf, wie wohl die Entwicklung jener Leute verlaufen sei, dass sie mit gewalttätigen Gruppen in Berührung kamen und durch deren Ideologie beeinflusst wurden.

Im Falle von Kelkal lieferte die Antwort der deutsche Soziologe Dietmar Loch, damals Universität Bielefeld, heute in Lille. Ihm hatte der 22-jährige Kelkal 1992 ein Interview für soziologische Forschungen gegeben. Daraus ergab sich das Bild eines anfänglich guten Schülers, der infolge eines Schulwechsels aus der Lyoner Vorstadt Vaulx-en-Velin, auf eine weiterführende Schule in der Innenstadt immer mehr an den Rand gedrängt worden war. Er geriet auf die schiefe Bahn und kam im Gefängnis mit dschihadistischer Ideologie in Berührung. Die Pariser Zeitung »Le Monde« publizierte den Beitrag von Loch 1995 auf über drei Seiten, begleitet von einem Kommentar unter dem Titel: »Khaled Kelkal, Opfer des alltäglichen Rassismus.«

Die Öffentlichkeit fragte damals, warum junge Menschen derart hatten »abdriften« können. Als eine Ursache neben ideologischer Einflussnahme wurden auch soziale Notlagen genannt. Nach den Unruhen in den Pariser Vororten von 2005, die von Terrorismus scharf unterscheiden sollte, brachte die Regierung unter der Präsidentschaft von Jacques Chirac ein »Gesetz für Chancengleichheit« auf den Weg. In seiner Begründung erkannte es an, dass die Unruhen auch aus schreiender sozialer Ungleichheit resultierten.

Doch es folgten keine praktischen Konsequenzen. Das Gesetz vom April 2006 enthielt einen Passus für die faktische Abschaffung des Kündigungsschutzes für Unter-30-Jährige, mit der Begründung, gegen soziale Ausgrenzung müsse man auf diesem Wege Jobs schaffen. Nach Massenprotesten wurde es schnell wieder abgeschafft.

Ein anderes Vorhaben war die Einführung des anonymen Lebenslaufs bei Bewerbungsverfahren. Dabei sollten Merkmale, die auf die Herkunft schließen lassen, ungenannt bleiben. Acht Jahre lang geschah danach gar nichts, weil die nötigen Ausführungsverordnungen fehlten. Im Juli 2014 verurteilte das Oberste Verwaltungsgericht den französischen Staat wegen Missachtung seiner eigenen Gesetzgebung. Die Minister für Arbeit und für Jugend konsultierten daraufhin Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften und verkündeten im Mai, der »anonyme Lebenslauf« werde einfach wieder abgeschafft.

Bereits im Januar hatte Premierminister Manuel Valls nach den Terroranschlägen rund um »Charlie Hebdo« lauthals verkündet: »Wir haben in Frankreich heute Apartheid.« Er wies auch darauf hin, dass die Marginalisierung vor allem unter Migranten in den Trabantenstädten einen fruchtbaren Boden für Rekrutierungsversuche dschihadistischer Sekten liefere. An konkreten Taten folgte darauf erneut nicht viel.

Dies droht auch dieses Mal. Der gesamtgesellschaftliche Zusammenhalt wird von vielen Seiten beschworen, weil »wir alle« doch angegriffen worden seien. Inhaltlich waren die Aktionen im Stadtzentrum von Paris oder im Internet verfolgte Aktivitäten von viel Emotion und Solidarität geprägt, jedoch auch von politischer Hilflosigkeit. Das Pariser Stadtwappen, ein auf den Wellen treibendes Schiff, und der dazu gehörige lateinische Spruch »Fluctuat nec mergitur«: »Es treibt, doch geht nicht unter« – soll für den Wunsch nach kollektiver Solidarität stehen.

Die meisten Menschen drücken ihre Solidarität oder Trauer jedoch lieber individuell aus – mit Kerzen, Blumen, Gedichten. Aber an Versuchen, die tief aufgerissenen gesellschaftlichen Gräben zu überbrücken, fehlt es bislang. Und wenn der ausgerufene Notstand, den Staatspräsident François Hollande gleich auf die Dauer von drei Monaten verlängern will, zum Versammlungsverbot unter freiem Himmel führt, gesellschaftliche Unzufriedenheit also keinen Ausdruck finden kann, ist wenig gebessert.

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Submitted by TRANSCEND member Benno Fuchs.

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